Texte

Uwe Haupenthal

Zur Eröffnung der Ausstellung:
„Olrik Kohlhoff. Kollateralkunst“
Bunker-D, 15. November 2018

Ausstellungsansicht

[ .. ] Zeichnung kolportiert bei Kohlhoff nicht selten das große Format und widerspricht daher jedweder Konvention. Neben betont kleinen Blättern entstehen Arbeiten mit einer Kantenlänge von mehreren Metern! Das erweckt den Eindruck, als würde der Künstler die Wirklichkeit de facto unbeschnitten ins Bild setzen. Darüber hinaus verfügt er bei Bedarf über virtuos vorgetragene grafische Möglichkeiten, die selbst kleinste Details ohne Verzerrung oder Verfremdung wiedergeben.

[ .. ] Was diese Blätter indes im Besonderen auszeichnet, ist nicht nur ihre geschlossen wirkende Anlage respektive ihre kompositorische Hermetik, sondern vielmehr eine damit einhergehende, beinahe zwanghaft wirkende, geradezu apodiktisch vorgetragene, visuell begründete Nähe zu gesehener bzw. erlebter Wirklichkeit, die keinerlei Flucht aus der vorgeführten Bildwelt mehr zulässt. Kohlhoffs Kohlezeichnungen überfordern den Betrachter schlichtweg, gerade weil er ihnen so nahe ist und weil er sich auf unterschiedliche, gleichwohl individuell begründete Weise in ihnen verfängt. Das Innere und das Äußere bilden eine neuerliche Einheit, die sich zwar auf die gesehene Wirklichkeit zurückführen lässt, die jedoch auf neuerliche Weise montiert wurde. Gewusstes, Gesehenes, Erlebtes, Gedachtes, Geträumtes, Mythisches, überhaupt: sinnlich Erfahrenes spannt einen schier unendlich weiten Bogen und lässt sich gleich gar nicht auf einer rational begründbaren Ebene zusammenfassen. Was Kohlhoff mit gebotener Konsequenz vermeidet, ist das exemplarisch vorgetragene Bühnenhafte. Da gibt es zwar durchaus Momente partikularer Erzählung. Doch wird diese immer wieder jäh unterbrochen und in Frage gestellt.
Das gelingt umso besser und überzeugender, da Kohlhoff in seinen Zeichnungen die Farbe weithin vermeidet und auf diese Weise stets eine neutralisierende Distanz zu wahren weiß. Will heißen: Die Dinge wachsen zusammen, und zwar auch dann, wenn sie aus gänzlich unterschiedlichen Bereichen kommen. Zugleich haftet ihnen eine für den Betrachter jederzeit einsehbare strukturale Offenheit, um nicht zu sagen, eine inhaltlich sowohl begrenzte wie begrenzbare Unbedarftheit an, die den Schritt hin zur Fotografie wie zur Plastik nahelegt.

[ .. ] Ein Blick auf Kohlhoffs wunderbare Texte, deren Lektüre ich Ihnen nachdrücklich ans Herz lege, verdeutlicht einmal mehr diese differenzierte Gemengelage. Exemplarisch zitiere ich einen von ihnen. Kohlhoff: „Ich ende nicht an den Grenzen meiner Haut, sondern ich ende dort, wo mein Blick endet. Bin ich in einem Zimmer, so fülle ich es leicht aus und reiche noch durch die Fenster hinaus. Außerhalb des Hauses ende ich an den Hecken, Bäumen, Häusern und parkenden Autos. Nachdenklich werde ich, wenn ich zum Himmel schaue, denn dann reiche ich sogar bis an die Wolken und in der Nacht bis zu den Sternen. Ich ende oft in den Augen anderer Menschen und sie enden in meinen.“
Für den primär auf das Visuelle fixierten Künstler ist das Auge der Schlüssel zur Wirklichkeit. Er durchdringt diese ebenso wie er sich von ihr durchfluten lässt, was im Übrigen einem osmotischen Zustand entspricht. Vor allem aber resultiert daraus eine konzeptuell bereinigte Situation, die allerlei metamorphe Gleichsetzungen zulässt. Kohlhoff: „Irgendwie mühsam fliegt eine Möwe durch den Himmel und entfernt sich dann entsprechend meiner Blickrichtung. Sie verschwindet in der gleichen Geschwindigkeit, in der auch dieser Moment vergeht. Möwe und Moment entschwinden synchron.“

Über dem Nebel

Wir, die Betrachter, fühlen uns hellwach und suchen in Kohlhoffs Bildern geradezu nach diesen unbelasteten Relationen und Verknüpfungen. Sinnhaftes entsteht, und es bricht im nächsten Augenblick ab. Erzählungen entwickeln sich wie von selbst. Der griechische Mönch läuft in schwindelerregender Höhe und gänzlich ungeschützt mit traumwandlerischer Sicherheit über den zwei Felsen verbindenden Steg. Sinnlos das alles. Sicherlich. Und doch gerade deswegen überraschend sinnhaft. Denn nicht länger die Form, wie etwa in der klassischen Moderne, sondern vielmehr die montierte veristische Wiedergabe gesehener Versatzstücke erschließt abermals einen unverstellten Blick auf das Wirkliche und ist in der Lage, diese, entgegen jeglicher statischer Konvention, zu durchdringen, wobei selbstredend Psyche und Bewusstsein eben nicht getrennt, wohl aber in ein neues, weil überraschend offenes Verhältnis gesetzt werden. Das aber bedeutet ungezügeltes Leben und macht selbst den Blick auf den toten Vogel erträglich.

Annett Reckert

Städtische Galerie Delmenhorst, 2015
Vorwort zum Katalog: „Olrik Kohlhoff
– Spiel nicht mit Schlafenden“

Reiher im Nebel

In einer großen, querformatigen Kreide- und Kohle-zeichnung aus dem Jahr 2014 setzt Olrik Kohlhoff einen eindrucksvollen Reiher in Szene. Bildschön verharrt er im linken Vordergrund einer nächtlichen Landschaft auf einem nackten Gehölz. Hinter ihm quillt ein dichtes, wattiges Nebelband herauf, eine diffuse Zone, die Hell und Dunkel scheidet, und auf ein nahes Feuchtgebiet spekulieren lässt.
Stolz, still und skulptural, vielleicht schon seit Stunden, sitzt der Vogel da – perfekt getarnt für jeden, der die falsche Perspektive hat: Dicke Schnecken kriechen über seine Füße, kalt auf kalt, vermutlich nichts ahnend von der Gefahr der Passage. Bei näherer Betrachtung sind unzählige der Weichtiere im Geäst zu entdecken, ein gänzlich unnatürlicher Aufmarsch. Und längst vermählt sich eine Schnecke samt prächtigem Gehäuse wie ein Gallgeschwür mit einem Bein des Reihers. Animal horror nennt die Filmwissenschaft das.
Olrik Kohlhoff erzählt mit diesem Naturstück von einer leisen Entgleisung. Lediglich zwei winzige leuchtende Augen im dunklen Horizontstreifen verweisen auf eine Siedlung und damit auf die Zivilisation. Jeden Moment, so scheint es, könnten sie aufflammen, um zur Bühnenbeleuchtung eines genüsslichen Massakers zu mutieren: Häppchen für Häppchen würde dann der Schnabel des Reihers, an dem längst ein glitzernder Tropfen hängt, zu einem fett bestückten Spieß. Oder kommt doch alles ganz anders? Vielleicht gewinnt ja doch das schleichende Kollektiv, das Schneckengeschwader, mit einer perfide klebrigen Strategie?

Jede Arbeit von Olrik Kohlhoff ist eine in allen Details durchdachte Komposition, die eine mysteriöse Geschichte mit unbestimmtem Ausgang erzählt. Oft sind es, wie im Falle des Reiherdramas, eindrucksvolle Landschaften, in denen der Horizont dominiert und für eine trügerische Stille sorgt.

Einen unwiderstehlichen Sog entfalten dies Szenarien vor allem dann, wenn sie sich einem nahezu wandfüllenden Format annähern. Dann werden die schiere Größe und der virtuose zeichnerische Realismus zusammen zu einer sicheren Einstiegshilfe, die uns selbst zu Wanderern in den Naturstücken macht. Und so landen wir überall dort, wo wir als Kind im Grunde niemals allein sein wollten – zumal Olrik Kohlhoffs Kompositionen immer auch ein Gehege für allerlei wunderliche Wesen sind. Wild und Vogelvieh kommen genauso vor wie eine Erdmännerspezies, deren subkutanes Treiben in Gängen und Höhlen durch den kompositorischen Kniff des Erdschnittes sichtbar wird.

Sämtliche Arbeiten von Olrik Kohlhoff zeugen von der Leidenschaft eines Zeichners, der seine Ideen aus allem Erdenklichen seiner sichtbaren Gegenwart zieht. Die Bilder sind ein zeichnerisches Sampling persönlicher, im täglichen Leben mit dem Fotoapparat oder schnell mit dem Stift skizzierter Beobachtungen sowie einer Vielzahl von Abbildungen. Diese stammen aus antiquarisch ergatterten Bildbänden, Kinderbüchern oder Magazinen; alte Fotos können eine Inspiration sein; die bunte Bilderwelt des Internet, Spiel- und Dokumentarfilme sind ein unerschöpflicher Fundus. Und was da nicht geboten, aber von einem Bild in seinem Entstehungsprozess gefordert wird, ist im Zweifelsfall Vorwurf einer meist nicht ganz humorfreien szenischen Übung im Heim des Künstlers. Das Ergebnis ist dann die passgenaue Fotovorlage, unter Umständen auch eine projizierbare Folie als technische Stütze, mit der ein Blatt im zeichnerischen Prozess vorübergehend überblendet werden kann.

Aus der Kunstgeschichte kann für Olrik Kohlhoff ein zeichnerisches Detail, das er zum Beispiel in einem Blatt Michelangelos findet, genauso dienlich sein, wie die Komposition und der Farbklang in den Gemälden der großen Romantiker oder der von den Surrealisten ausgereizte Zusammenprall eigentlich unvereinbarer Realitäten. Nicht minder aber fasziniert er sich an jenen Bildern, mit denen die Naturwissenschaft uns die Welt erklären will: Grafiken, Schnitte, Detailstudien, Schaubilder oder Tafeln inklusive des nostalgischen Charmes, den viele von ihnen längst mit sich führen. Sie stammen aus jenen Zeiten, in denen man es noch wagte, einen ganzen Kontinent, den menschlichen Körper oder das Weltall in nur einem einzigen Bildband zu erklären.

Olrik Kohlhoff erinnert sich an die pure Freude, die ihm als Kind das Abzeichnen aus solchen Büchern bereitete, und heute ist ihm eben diese studierende Mimesis als Mittel der Erkenntnis ein reflektiertes künstlerisches Bedürfnis. Als Realist und erklärter Augenmensch setzt er darauf, für das Rätsel des Daseins im zeichnerischen Prozess immer wieder neu einen Verstehensanlauf zu nehmen. Und über diesen Schritt der Aneignung hinaus ist es dann das assoziativ-kombinatorische Spiel mit den Dingen, das auf dem Blatt Neues schafft. Nur so kann es gelingen, hinter der visuell erfassbaren Welt etwas hervorzulocken, was die sonst unerreichbaren „unbekannten Siebtel des Eisbergs“ (Siegfried Lenz) berührt.

Zur Wachsamkeit des registrierenden Zeichners gehört das Sensorium des Tagträumers, dessen Antennen empfindlich genug eingestellt sind, um sich mit dem bloß Sichtbaren und den im Alltag überlebensdienlichen Glauben an Gewissheiten nicht zufrieden zu geben. Trotz aller tief empfundenen Beziehung zur Natur ist Olrik Kohlhoff ein melancholischer und auch ein misstrauischer Beobachter der Welt, in der er lebt. Was ihn interessiert, ist das Plötzlich und Unerwartet, das wir nicht zuletzt dann zitieren, wenn der Tod ins Spiel kommt.

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Arne Rautenberg

Bildbesprechungen aus dem Text,
„Auf die Sonne schießen“
im Katalog „Spiel nicht mit Schlafenden“

Auf die Sonne schießen

Wenn ein Mann sein Gewehr hebt, um damit auf die Sonne zu schießen, so zeugt das vor allem von Ohnmacht. Wenn der Mann sich dabei noch in einem Boot befindet, welches nussschalengleich in
den kabbelnden Wellen treibt, so geht einem diese Ohnmacht nur umso sinnfälliger auf. Und wenn die Sonne als kosmische Urgewalt, an der das Schicksal unserer Erde hängt, am Himmel auch noch blass, klein und schwach erscheint, sind wir angekommen im Spannungsfeld der Bilder Olrik Kohlhoffs.

Verbissen legt der Schütze an. Und für einen Moment suggeriert uns die Bildwirklichkeit, als könnte er sein Ziel tatsächlich treffen, als fände das Aufbegehren gegen alle Urkraft endlich einmal seinen Widerstand.
Wer sich fragt, welchen Sinn Kohlezeichnungen machen, der bekommt ihn hier auf dem Silbertablett serviert: Plötzlich wird über ein narrativ angelegtes Moment das Nebensächliche, Flüchtige zum eben noch Vorstellbaren; und apropos Flüchtigkeit: Wie sehr taugt die Zeichnung, die Kohlezeichnung gar, als Sinnbild für den Augenblick – erscheint sie doch ob ihrer Empfindlichkeit (und damit der Idee ihres potentiellen Verschwindens) besonders der Endlichkeit (und damit unserer Fürsorge) zu unterliegen.

Wildschweine

[ .. ] Wie sehr gerade die Kohlezeichnungen von Olrik Kohlhoff auf Kommunikation mit dem Betrachter
hin angelegt sind, lässt sich auch an ihrer Größe nachweisen. Einige Formate sind dabei für
Papierarbeiten enorm; das kann, wie bei der Zeichnung mit der Wildschweinrotte schon mal bis hin
zu 260 x 550 cm gehen. Steht man vor dieser Referenzarbeit, nimmt sie das gesamte Blickfeld ein;
man muss den Kopf hin und her bewegen, um alle Bildsujets fassen zu können. Als besonders
eindrucksvoll erweist sich dabei die in manchen Kohlezeichnungen Kohlhoffs eine Rolle spielende
Querschnittsästhetik. Der aus der Tiefe des Naturraums entlehnte Bildgegenstand macht dabei abrupt vor uns Betrachtern halt und erscheint wie aufgeschnitten; als wäre eine imaginäre Glaswand zwischen uns und dem Bild – wobei das Bild tief in den Boden zieht und sich unsere Augenhöhe in etwa mit der Bodenhöhe des Bildes deckt.

Der Bodenquerschnitt im Wildschweinbild zeigt neben
aufregend ausgearbeitetem Wurzelwerk, Erd- und Gesteinsschichten zwei bauartig gegrabene Gänge, welche in kleine Höhlen münden. In diesen Höhlen liegen, bzw. kauern zwei männliche Körper, die uns ihre Rücken zuwenden. Beide sind mit Attributen ausgestattet. Der Körper, der mit dem Kopf Richtung Ausgang kauert, hat Hunderte von Äpfeln unter sich; derjenige, der mit den Füßen zum Ausgang liegt, weist sich über Block und Stift als ein Patron der Gelehrigkeit, ja, vielleicht sogar als Alter ego des Künstlers selbst aus. Die Szene ist an Dramatik kaum zu überbieten. Leben diese klaustrophobisch vom kalten Erdreich umfangenen Höhlenmenschen noch?
Das Bild gesteht ihren erstaunlich sauber und vital wirkenden Körpern durchaus Lebensfunken zu. Doch die Wildschweine haben bereits die Apfelfährte aufgenommen und werden in Kontaktaufnahme treten, soviel ist sicher; vom einen werden sie die Füße, vom anderen den Kopf finden und was sie dann zu tun gedenken, bleibt unser Phantasie überlassen. Es muss nicht glimpflich abgehen, zumal Wildtiere wild und speziell diese hier längst sabbernd auf dem sündigen Apfeltrip sind – doch zurück zu uns Betrachtern. Wie finden wir uns im Bild wieder?

Normalerweise wären die unteririschen Szenen im Dunkel vergraben; doch durch die Idee, das Dargestellte in Form eines gezeichneten, aufgeschnittenen Dioramas zu präsentieren, ergibt sich eine neue Möglichkeit für das Bild, gemeinsame Sache mit uns zu machen. Denn wir Betrachter in unserem Betrachterraum geben dem Bild sein Licht, unser Licht wird (so suggeriert es das Bild) zur Lichtquelle des Bildraumes (in den unterirdischen Höhlen).

Und noch einen Schritt weiter gedacht: Müsste der hoffnungslos mit den Füßen seiner engen Höhle Verschlossene nicht längst das Atmen aufgegeben haben? Doch eigentlich wirkt er, als schlafe er nur, die Höhle ist schließlich zu uns hin geöffnet – geben wir ihm „unsere“ Luft zum atmen? Atmen wir dieselbe Luft? Sind die dort Liegenden gar unsere Stellvertreter? Rückenfiguren zum Selberreindenken, wie sie seit Caspar David Friedrich zum Topos geworden sind?

Jedenfalls verlockt diese großformatige Kohlezeichnung subtil den Betrachter zur gemeinsamen Sache; das Unmögliche scheint möglich – und wir sehen uns in eine metaphysische Schwingung versetzt. Bei derlei Großformaten mag man dem Künstler, der beim Zeichnen die Kohle mit den Händen verwischt, gerne glauben, dass ihm die Haut an den Fingern während der Arbeit zunehmend dünner gerät.

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